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Geschichte erleben - Er wachte einst über die Stadt

  

Fotos: Stephanie Hengeler-Zapp

Fotos: Stephanie Hengeler-Zapp

Als ich endlich oben ankomme, bin ich ziemlich außer Puste: 245 Stufen habe ich erklommen, um das Turmstüble, den höchsten begehbaren Punkt im Turm der Memminger Martinskirche, zu erreichen. Für Hansjörg Käser gehört der Aufstieg über die schmalen Holztreppen schon fast zum „täglichen Brot“: Er ist einer der 50 ehrenamtlichen Türmer, die zahlreichen Besuchern und Bürgern der Stadt einen eindrucksvollen Ausblick auf den Marktplatz, die Dächer der Altstadt und spannende Einblicke in ein Stück heimischer Geschichte bieten.

„Ich weiß nicht, wie oft ich schon oben auf dem Martinsturm war“, sagt Hansjörg Käser. „Aber ich genieße die Aussicht jedes Mal wieder.“ Auf den Balkonen, die 40 Meter hoch über der Zangmeisterstraße liegen, haben wir bei dem schönen, sonnigen Tag heute einen wunderbaren Rundumblick – der sogar bis in die Alpen reicht. Manche Jahre sei er die Stufen weit über einhundert Mal hochgestiegen, erzählt Käser. Um dann Gäste oder auch Einheimische durch den „Mate“ zu führen, wie Memmingens höchstes Bauwerk und Wahrzeichen auch genannt wird.

Im Turmstüble, das bei jeder Führung als gemütliches Plätzchen zum Verschnaufen und Ausruhen dient, erzählt Hansjörg Käser von seinen historischen Vorgängern. Auf Initiative von Kirchenvorstand Reinhard Heuß habe er 1995 eine neue Türmergeneration mitbegründet. Vor gut zwölf Jahren habe er dann dessen Nachfolge angetreteten und das Amt des „Obertürmers“ übernommen. Neben Käser geben rund 50 weitere Türmer ihr Wissen über den „Mate“ in gut 300 Führungen jährlich an interessierte Besucher weiter. In der Regel komme jeder der Turmführer etwa vier bis sechs Mal zum Einsatz, „je nachdem wie oft der einzelne kann oder möchte“, fügt Käser hinzu. Der älteste unter ihnen ist bereits 87 Jahre alt.

Von Anfang Mai bis Ende Oktober findet sich einer von ihnen täglich um 15 Uhr vor der kleinen Zugangspforte des Turmes ein und empfängt, ganz ohne vorherige Anmeldung, seine Gäste – in den vergangenen 26 Jahren bereits über 70 000. Auch Sonderführungen sind sehr beliebt. „Viele Schulklassen werden von uns auf den Martinsturm begleitet“, sagt Sybille Käser, die ihren Mann tatkräftig bei all der Organisation unterstützt und auch selbst als „Türmerin“ aktiv ist. „Führungen für Kinder machen großen Spaß. Hier können die Kinder Geschichte richtig erleben.“

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So sahen damals die Schlafkammern der Wächter aus. Eine der beiden ist heute voll eingerichtet und kann im „Mate“ besichtigt werden.

Denn zu sehen gibt es hier viel. Eine riesige rote Fahne, eine große gußeiserne Laterne und ein kupfernes Sprachrohr zum Beispiel, die noch immer im Martinsturm hängen. Mit diesen Utensilien haben die ehemaligen Turmwächter die Bürger alarmiert, wenn irgendwo Feuer in der Stadt ausgebrochen war. Allerdings unbenutzt seit jetzt ziemlich genau 100 Jahren, denn im Jahr 1920 war die Wächterzeit vorbei. In der Silvesternacht 1920/21 stiegen mit Georg Eberhardt und Julius Westermeyer die letzten Türmer der Stadt mit ihrem Beiwächter Heinrich Grimminger über die engen Holzstiegen hinab, nachdem sie ihren Dienst verrichtet hatten. Es war der letzte nach 420 Jahren. Noch heute hängen Bilder der letzten beiden Wächter im Turmstüble.

Türmer - Jedes Jahr führen sie rund 4 000 Gäste den Mate hinauf

Trotz Sonnenschein ist es heute eisigkalt in dem Gemäuer, nur im kleinen Türmerstübchen heizt ein kleiner Bollerofen. Viel Komfort hatten die Turmwächter damals nämlich nicht: Auf engstem Raum mussten sie meist zu zweit in Zwölfstunden-Schichten ihren Dienst versehen. Über eine immer noch funktionstüchtig erhaltene Aufzugspindel konnten außen am Turm Lebensmittel oder Heizmaterial hinaufgezogen werden. Die „Toilette“ in Form eines Holzeimers befand sich einst unter der Treppe im Achteck (bei den Balkonausgängen). Im Geschoss darüber lagen die Schlafkammern der Wächter, von denen heute eine Kammer voll eingerichtet ist und besichtigt werden kann.

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Als Zeichen des Dankes und der Anerkennung: Im November 2017 wurden die Türmer und Türmerinnen von St. Martin von Oberbürgermeister Manfred Schilder zu einem ehrenden Empfang ins Memminger Rathaus eingeladen. Mit im Bild Heimatpfleger Günther Bayer sowie einige Stadträte. Foto: Pressestelle Stadt Memmingen
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Acht Glocken hängen auf dem Turm von St. Martin.
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Türmer aus Leidenschaft: Hansjörg Käser.

Neben dem Schlagen der Glocken – unter anderem auch nachts mithilfe eines mit einem Lederbügel versehenen Schlaghammers, zum Zeichen, dass er nicht schlief – gehörte auch das Blasen vom Turm, etwa wenn hohe Herren in die Stadt hinein- oder hinausritten, zu den Aufgaben der Türmer. Die wichtigste aber war die Feuermeldung. Es gab zwei Feuerglocken im Turm, die sich merklich im Klang unterschieden: die größere der beiden, die Stadtfeuerglocke, wurde geläutet, wenn Feuer innerhalb der Stadtmauern ausbrach, die kleinere „Landfeuerglocke“ bei Bränden im Umland. Zusätzlich musste der Türmer die rote Fahne – oder nachts die rote Laterne – in Richtung Brand heraushängen. Einer der Wächter warnte dann die Memminger mit seinem Sprachrohr vor der Feuergefahr – ein anderer musste die 245 Stufen hinuntereilen und Meldung beim Bürgermeister machen. „Ein sehr effektives System“, sagt Käser. Denn in Memmingen sei es nie zu einem Großfeuer gekommen – „und das, obwohl die Bauweise der Holzhäuser damals sehr eng war.“

„Anfang des 20. Jahrhunderts war die Türmerei aber dann veraltet“, erzählt Käser. Der Lärm in der Stadt nahm zu, sodass das Sprachrohr gar nicht mehr gehört wurde, außerdem gab es dann bereits die ersten modernen Feuermelder und auch Telefonapparate. Umso mehr liegt dem 76-Jährigen deshalb am Herzen, den historischen Berufsstand und die Geschichte des Memminger Wahrzeichens weiterzutragen. Außerdem sei es für ihn ein Hobby, das richtig Spaß und Freude bereite. „Wir sind froh um jeden, der uns unterstützen möchte“, betont Käser. Wer sich den Turmführern anschließen möchte, müsse lediglich zwei „Aufnahmekriterien“ erfüllen: „Natürlich sollte derjenige noch die Stufen den Turm hinaufsteigen können“, schmunzelt er. „Und er sollte allgemein Interesse an Geschichte und der Stadt haben und ein bissel was darüber erzählen wollen.“ Dass die Erinnerungen an die historische Türmerzeit nicht verloren gehen und die Geschichte im alten Mauerwerk des „Mate“ weiterhin auflebt – dafür sorgt die Truppe um Hansjörg Keser. Stephanie Hengeler-Zapp