Leben

Auch ein Leben mit Schmerzen ist lebenswert

 

© Pressefoto: Julie Diederich

© Pressefoto: Julie Diederich

Chronische Schmerzen sind nicht heilbar, aber mit der richtigen Behandlung kann die Lebensqualität deutlich verbessert werden – Erfahrungsbericht einer Schmerzpatientin

Auch ein Leben mit Schmerzen ist lebenswert-2

Meine ersten, bewusst wahrgenommenen Schmerzen erlebte ich als Kind. Sie sind das Fundament, auf dem sich alles aufbaute. Da ich mich auch heute noch gut daran erinnern kann, machen wir einen Ausflug in das Jahr 1975: Die Fahrt vom Krankenhaus nach Hause ist mir noch genauso in Erinnerung, wie das Krankenzimmer, in dem ich ein Jahr lang lag. Meine Beine hingen an Seilen, die über Rollen liefen. Auf der anderen Seite der Rollen hingen Gewichte. Einmal im Monat wurden die Gewichte durch leichtere ersetzt und so verringerte man den Abstand der Bruchstelle Stück für Stück. Leider riss nach einem halben Jahr ein Seil und der Knochen brach erneut. Also lag ich ausschließlich auf dem Rücken und durfte mich auch wegen des Schädelbruchs nicht bewegen. Die Zeit in der Klinik kam mir unendlich lange vor, aber schneller heilten Schädelbasis- und Oberschenkelhalsbruch nicht; dafür war der Sturz aus zehn Meter Höhe zu schwer. Es war Ende April 1975 und bei meiner Entlassung war ich dreieinhalb Jahre alt.

Ich konnte es kaum erwarten, wieder zu Hause zu sein. Ich wollte wieder draußen spielen, herumtoben und vor allem meinem Vater wieder auf dem Flügel Spielen hören. Doch an einem Abend im Mai 1975 war alles anders. Statt dem Auto meines Vaters kam mit lauter Sirene ein Krankenwagen in den Hof gefahren. Ich bekam Angst.

Irgendwann verließ der Krankenwagen den Hof und es wurde still. Ein langer greller Schrei ließ mich erschrocken zusammenzucken. Meine Mama schrie meinen Namen, rannte ins Wohnzimmer und drückte mich fest an sich. „Kind, weißt du, Dein Papa spielt jetzt im Himmel“, hauchte sie mit erstickter Stimme. Das Spiel meines Vaters verstummte für immer. Der Verlust-Schmerz kam so plötzlich wie der Sturz vom Balkon. Kurz danach rollte wieder ein Krankenwagen in den Hof. Diesmal brach meine Mutter zusammen. Erst Monate später kam sie zurück.

Der Sturz war der erste körperliche, der Verlust meines Vaters der erste seelische Schmerz. Diese Schmerzerfahrungen bildeten den Anfang eines langen Weges, auf dem mir viele Ärzt*innen, Behandlungen und auch viele Operationen begegneten. Die Behandlungen damals waren lange nicht die von heute. So versuchte mein Körper die Wirbelsäule von selbst wiederaufzurichten. Durch den Beinlängenunterschied entwickelte sich allerdings eine Skoliose – eine seitliche Verbiegung der Wirbelsäule – mit allen Kollateralschäden, die diese leider mit sich bringen kann: knöcherne Anbauten an den Wirbelkörpern, sich daraus entwickelnde Bandscheibenvorfälle, Schmerzen und Operationen, viele Krankenhausaufenthalte und Reha-Maßnahmen, viele Schmerzmittel und das Gefühl, nicht „normal“ zu sein. Dazu kamen später noch ein chronisches Nierenversagen, ein weiterer heftiger Sturz, die Autoimmunerkrankung Systemischer Lupus, seelische Verletzungen, eine Herzmuskelentzündung und eine misslungene Untersuchung mit weiteren Folgeschäden und ein Cluster-Kopfschmerz. Den Gipfel bildeten 2015 nicht enden wollende Migräneanfälle und andauernde Schwindelattacken.

Das Trauma 1975, wie ich es nenne, hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Das Bild vom eingegipsten Körper und den an Seilen aufgehängten Beinen, das lange Liegen und der schmerzhafte Verlust des Vaters und die anschließend fehlende Mutter brannten sich wie eine Inschrift in mein Gehirn ein. Ich lernte Schmerz auszuhalten und damit alleine dazustehen. Traten in der Folge körperliche oder seelische Schmerzen auf, startete sich ein festgelegtes Programm: Angst-Schockstarre aussitzen, durchhalten, wieder weiterlaufen. Alles, nur nicht (wieder) lange liegen. Ab meiner Jugend glich mein Sein einem 500 PS-starken Auto, das ausschließlich mit Vollgas auf der Überholspur fuhr. Wild, umtriebig, mitunter gefährlich, sehr intensiv, berauschend und leidenschaftlich. Dies schaffte auch viel Leid. Liegen brachte irgendwann genauso wenig Linderung wie Schmerzmittel, die ich immer griffbereit hatte. Irgendwann hatte ich mehr MRT-Bilder als Urlaubsbilder im Schrank.

Bis 2015 gab es an meinem Körper kaum noch eine schmerzfreie Stelle. Bevor ich in die m&i-Fachklinik Enzensberg kam, ging für mich Schmerzfreiheit so: Erst mal so lange wie möglich durchhalten, hin und wieder Tabletten nehmen und kurz liegen, vielleicht noch eine OP und anschließend Reha. Im Leben vieler Menschen mit chronischen Schmerzen eine logische, oft praktizierte Reihenfolge. In Wirklichkeit serviert uns der Schmerz schon mal ein Kontrastprogramm: Verzweiflung, Fragen, Sorgen, Ängste, Überforderung, Durchhalteparolen, Depressionen, Vernachlässigung, Rückzug etc.. All dies versucht man lange mit Schmerzmitteln beiseite zu schieben. Das klappt eine Weile. Aber wenn der Schmerz wiederkommt oder bleibt, sind Schmerzmittel Kurzstreckenläufer. Den Marathon gewinnt man nur, wenn man weiß, wie und wo Schmerz entsteht und wenn man anfängt, ihn zu verstehen.

Dass die Zunahme meiner Schmerzen oder ihre Entstehung aber vor allem etwas mit meiner frühkindlichen (Verlust-)Erfahrung, meinen Gedanken und Gefühlen zu tun hatten, wusste ich nicht und wollte es auch lange nicht wahrhaben. Die Angst, auch noc die Musik zu verlieren, war so groß, dass ich alles dem Spielen unterordnete. Also ging ich ständig über die Belastungsgrenze. Es war eine Herzmuskelentzündung und ein Perikarderguss, eine zu hohe Wasseransammlung im Herzbeutel, was mich mit Mitte 20 wieder einmal aus dem Verkehr zog. Nach drei Monaten in einer Klinik ging ich direkt wieder auf große Tournee.

Heute sind es viele unterschiedliche Schmerzen, unter denen ich mal mehr, mal weniger leide. Aber ich habe bei meinem Aufenthalt in der m&i-Fachklinik Enzensberg gelernt, anders damit umzugehen und vor allem sie zu verstehen. Allerdings haben sich durch mein früheres Verhalten Muster eingebrannt und ich hatte massive Probleme, mir ein anderes Verhalten anzugewöhnen.

Mein Weg ins Interdisziplinäre Schmerzzentrum

Ich lernte 2015 den in Ravensburg ansässigen Neurologen Dr. Maier-Janson kennen. Meine Schmerzen hatten sich längst chronifiziert. „Schmerz ist nicht nur ein Ereignis, sondern auch eine Emotion und daher spielen viele Faktoren bei der Entstehung und Beurteilung von Schmerz, vor allem bei chronischem Schmerz, eine Rolle“, sagte er mir. Er empfahl mir auch das Interdisziplinäre Schmerzzentrum der m&i-Fachklinik Enzensberg. Eine Klinik, die Schmerz als eigenständige Erkrankung behandelt. Dort lernte ich, warum man an Stellen im Körper Schmerzen spürt, aber nicht immer auf einem MRT-Bild etwas sieht; ich lernte zu verstehen, was meine Gefühle und Gedanken mit meinen Schmerzen zu tun haben und was der Grund war, dass ich immer über den Schmerz drüber ging. Das war im November 2015.

Ich habe selten zuvor so viel gelernt, wie in der m&i-Fachklinik Enzensberg. Wer wirklich verstehen will, warum Schmerz trotz reichlicher Schmerzmittel und Operationen nicht verschwinden will und wer verstehen will, warum ein MRT-Bild nicht das Maß aller Dingen ist, ist dort richtig. Ich kann aus meiner Erfahrung sagen, dass sowohl das Konzept dieser Klinik als auch der Umgang mit Patient*innen etwas Besonderes und Großartiges ist.

2020 hatte ich dann einen Rückfall: Der Tod meiner Mutter geschah wie der meines Vaters plötzlich und unerwartet. Ich bekam heftige Schmerzen und gefühlt alle auf einmal. Der Tod der Mutter riss eine alte Wunde auf. Ich ging wieder in die m&i-Fachklinik Enzensberg, da ich in mein altes Durchhalteverhalten gerutscht war und aus der Schmerzspirale alleine nicht mehr herauskam. Chefarzt Dr. Klaus Klimczyk und sein Team halfen mir auch dieses Mal schnell aus diesem Schmerzdschungel. Zum Glück gehören die langen Wartezeiten, die es früher oft im Interdisziplinären Schmerzzentrum gab, der Vergangenheit an.

Wichtig: Mitmachen!

In der m&i-Fachklinik Enzensberg zu sein, bedeudet, noch einmal in die Lehre zu gehen. Man bekommt viel an die Hand, mit dem man sehr viel anfangen kann. Und das im wörtlichen Sinne. Damit eine Schmerzreduktion jedoch einsetzen kann, muss man sich auf die Behandlung einlassen, sich öffnen und man muss mitmachen.

Ich möchte mich bei der m&i-Fachklinik Enzensberg und vor allem bei Dr. Klimczyk und seinem Team herzlich bedanken. Ich habe durch sie gelernt, meine Schmerzen zu verstehen und auf meinen Körper zu hören – Schmerz ist nicht die Abwesenheit von Gesundheit!

Julia H. M. Diederich (*1971)Komponistin. Orchesterleiterin. Verlegerin.

Nach einer Banklehre absolvierte Julia Diederich die Latin-Percussion School in München und die Pentaton Percussion School in Wuppertal. Danach folgte das Studium „World Music“ an der staatlichen Hochschule für Musik in Rotterdam und der Besuch des International Music College in Freiburg. Zusätzlich ist Julia Diederich IHK-geprüfte europäische Eventmanagerin und legte die IHK-Prüfung in kaufmännischer EDV und Medientechnik Print ab.

2017 gründete sie ein Orchester mit 66 Musiker*innen und übernahm 2018 die GmbH eines Buchverlags. Als Live- und Studiomusikerin tourte sie in unterschiedlichen Formationen quer durch Europa und Kuba. Seit Mai 2020 ist sie auch Mitglied des Deutschen Komponistenverbandes.