Hier ersetzt das Personal zum Teil die Familie
Im Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Heilpädagogik am BKH Kaufbeuren werden schwer kranke Menschen behandelt. Das erfahrene Team ist auf den Umgang mit Autisten spezialisiert
Dass diese Abteilung des Bezirkskrankenhauses (BKH) Kaufbeuren etwas Besonderes ist, wird deutlich, wenn man sieht, woher sie überall Anfragen bekommt. Aus ganz Bayern und zum Teil weit darüber hinaus bitten Einrichtungen darum, einen Patienten oder eine Patientin aufzunehmen. „Wir haben sehr viel schwer erkrankte Menschen bei uns. Immer wieder hören wir: Wenn ihr sie nicht aufnehmt, wer dann?“, sagt Stationsleiterin Melanie Gredigk. Die Abteilung trägt den Namen „ZPH“. Diese Abkürzung steht für „Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Heilpädagogik“. Hier werden Menschen mit Intelligenzminderung, Lernbehinderung und/oder tiefgreifender Entwicklungsstörung behandelt. Alle haben gemeinsam, dass sie zusätzlich an einer psychischen Erkrankung leiden. Die Station ist auf die Behandlung und den Umgang mit Autisten spezialisiert. Das ZPH gibt es bereits seit 35 Jahren.Der ärztliche Leiter, Privatdozent Dr. Philipp Sand, arbeitet erst seit September 2020 hier. „Die Vielfalt an seltenen Erkrankungen, die wir hier behandeln, ist groß und sehr reizvoll. Und die engmaschige Kombination von verschiedenen Therapieansätzen, an der so viele unterschiedliche Berufsgruppen mitwirken, ist außergewöhnlich“, sagt der 54-jährige Oberarzt. Melanie Gredigk bestätigt dies. Die Gesundheits-und Krankenschwester ist seit 1999 im ZPH tätig und kennt so manchen Patienten von Anfang an. „Unsere Hauptaufgabe ist, mit den Patienten Beziehungsaufbau zu leisten, sie aus ihrer Akutsituation zu holen und ihnen Beistand zu leisten“, sagt die 43-Jährige.
Hilfe für Viele
Die Patient:innen des ZPH sind zwischen 18 und 85 Jahren alt. Alle leiden unter einer Intelligenzminderung, die angeboren oder erworben sein kann. Dazu gehören auch Lernbehinderungen, Teilleistungsstörungen, kognitive Beeinträchtigungen und tiefgreifende Entwicklungsstörungen. Oftmals findet sich zusätzlich zur geistigen und seelischen auch eine körperliche Behinderung. „Viele können weder lesen noch schreiben, manche auch nicht hören. Sie sind nahezu hilflos und können sich nicht ausdrücken“, beschreibt Oberarzt Dr. Sand das Klientel.
Zusätzlich weisen die Frauen und Männer psychiatrische Erkrankungen auf. Diese reichen von posttraumatischen Belastungsstörungen und Schizophrenie über Persönlichkeitsstörungen, Autismus in verschiedenen Formen bis hin zu Depression und Manie, sexuelle Verhaltensauffälligkeiten und Demenz. Ein äußerst breites Feld. „Manche bleiben nur eine Nacht bei uns, manche mehrere Jahre“, berichtet Dr. Sand. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt zwischen vier und sechs Wochen.
Die Station verfügt über 20 Betten. Seit mehr als einem Jahr sind jedoch nicht alle belegt. Das liegt an Corona. In manchem Doppelzimmer wohnt vorübergehend nur eine Person, die Kapazität kann nicht voll ausgeschöpft werden. Die Pandemie hat auch noch eine andere Auswirkung, die das Kaufbeurer ZPH-Team deutlich spürt: Fast alle Patient:innen leben in einem Wohnheim und arbeiten in einer Werkstatt oder Förderstätte. Bedingt durch Corona wurden Gruppen gebildet, die sich möglichst nicht begegnen sollen. „Das führt dazu, dass dieselben Menschen 24 Stunden am Tag zusammen sind und seit einem Jahr keinen alleinigen Ausgang haben, sondern nur einen mit Fachpersonal. Außerdem müssen sie jeden Morgen aufstehen, in den Bus einsteigen und in der Werkstätte pünktlich zur Arbeit erscheinen. Für ihre Tätigkeit bekommen sie eine kleine Entlohnung. Das alles sorgt bei manchem für Stress und Überforderung“, berichtet Melanie Gredigk. In der Klinik erhalten sie die Möglichkeit zur Auszeit und Orientierung.
Sehr viele Patienten sind beinahe ausgeschlossen von sozialen Strukturen. Ihre Familien sind zerbrochen, sie haben niemand mehr. „Wenn sie zu uns kommen, meist mit einer Latte an Medikamenten, schauen wir sie an wie ein weißes Blatt Papier und suchen den Fehler im System“, sagt die Stationsleiterin. Dabei ist schon passiert, dass Menschen mit 50 Jahren im ZPH aufgenommen werden, weil Zeit ihres Lebens keiner ihre Autismus- Spektrum-Störung (ASS) erkannt hat und die Beschwerden nicht zugeordnet werden konnten. Dann sind die erfahrenen Fachkräfte der Abteilung gefragt – und nicht selten haben sie eine Lösung parat.
Mehr als nur Pflege
Hier auf Station arbeitet ein breitgefächertes, individuell geschultes, erfahrenes, junges Team zusammen. Es besteht aus Ärzten, Gesundheits- und Krankenpflegenden, Psychologen, Ergo-, Sport-, Musik-, Körper- und Kunsttherapeuten sowie Heilerziehungs-Pflegekräften mit verschiedenen Fachweiterbildungen: zum Beispiel Melanie Gredigk, die auch Fachkraft für Autismus ist. „Insgesamt befinden sich Patienten mit Autismus-Spektrum- Störungen zu einem Anteil von etwa 20 Prozent auf unserer Station“, teilt sie mit. Das jahrelange Wissen und Kennen der Patient:innen sowie der Beziehungsaufbau spielt in der Arbeit eine große Rolle. „Wir sind nicht nur Pflegepersonal, wir sind teilweise die fehlende Familie und der Ansprechpartner“, sagt die Stationsleiterin. Die dazugehörige Ambulanz und die Station sind eng vernetzt. Enge Kooperationen gibt es, wie beschrieben, auch mit den Wohnheimen der Patienten und anderen ambulanten Hilfen. Die 35 Mitarbeitenden des ZPH fahren bis in die Landkreise Landsberg, Weilheim-Schongau, Fürstenfeldbruck und Augsburg, um die Betroffenen und die Verantwortlichen der Wohnheime und Werkstätten aufzusuche
Individuelle Bedürfnisse
Um eine Reizüberflutung insbesondere bei Autisten zu vermeiden, sind die Zimmer auf Station eher schlicht gehalten. „Manche wollen auf einer Matraze am Boden liegen, andere haben ein Holz- oder Metallbett. Wir sind da sehr flexibel und richten uns nach den Bedürfnissen unser Patienten“, so Gredigk. Zum ZPH gehört auch ein „Snoezelenraum“ mit Licht- und Musikanlage, ein Badezimmer mit Whirlpool sowie neu ein Entspannungsraum. Für sportliche Aktivitäten wie Qi-Gong steht ein Sporttherapieraum zur Verfügung. Gefragt sind die Tischtennisplatte im stationseigenen Garten sowie der Kicker im Inneren. „Auch der Schaukelsitzsack ist stark frequentiert“, so die pflegerische Führungskraft. Für sie und das Team steht stets der Mensch im Mittelpunkt. „Wir versuchen, ihn so zu nehmen, wie er ist, um herauszufinden, was er braucht.“ Dabei werden Oberarzt Dr. Philipp Sand, Stationsleiterin Melanie Gredigk und ihre Kolleg:innen regelmäßig mit bewegenden Schicksalen und viel Leid konfrontiert. Aber auch mit großer Dankbarkeit der Menschen, die sie begleiten, und mit einigen Überraschungen auf der Suche nach den Ursachen für die Krankheiten und deren Therapiemöglichkeiten. Die Tätigkeit im ZPH, darin sind sich alle einig, ist spannend und macht viel Spaß.