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Als Paul das Laufen lernte...: Familienleben mit Handicap

               

Fotos: Sandra Heitmann, Sonja Röllig

Fotos: Sandra Heitmann, Sonja Röllig

660 Gramm wog Paul als er geboren wurde. Viel zu früh und noch nicht lebensfähig. Gerade einmal in der 23. Schwangerschaftswoche brachte Sonja zwei Leben auf die Welt. Einen Sohn und eine Tochter. „Es liegt einfach in unseren Genen, dass wir Zwillinge bekommen“, erzählt Sonja. Was dann aber nur wenige Stunden nach der Geburt geschah, ist für die Familie bis heute schwer zu begreifen. Zu dem Zeitpunkt wurde Sonja und Jürgen von den Ärzten erklärt, dass Paul es nicht schaffen würde. Durch einen Lungenriss starb dann plötzlich die Tochter. Madeleine hätte sie heißen sollen.                   

Darauf folgt für die kleine Familie eine schwere Zeit zwischen Krankenhaus und Operationen, zwischen Angst, Frustration und der nie schwindenden Hoffnung, dass es Paul doch bald besser gehe. „Wir hatten in München wirklich sehr gute Ärzte“, betont Jürgen. „Dank ihnen kann Paul heute ganz normal sehen.“ Sie sollen sich allerdings darauf einstellen, dass Paul nie laufen kann. Sonja und Jürgen haben in dieser Zeit nur für das Kind funktioniert. Jeder noch so kleine Entwicklungsschritt war ein Erfolgsmoment – auch heute noch.
                    

Kinder sind ehrlich und neugierig. Sie fragen nach, wenn sie wissen wollen, warum Paul einen Rollstuhl braucht. Anders als Erwachsene, die oft einfach nur starren oder mitleidig schauen. „Die Leute sollen einfach nachfragen“, sagt Sonja. „Wir sind da offen und beantworten wirklich gerne Fragen.“ Noch schlimmer sei die Situation jedoch, wenn die Leute Paul im Kinderwagen sähen: „Das Kind ist dafür doch viel zu groß.“
                

Als Paul das Laufen lernte...: Familienleben mit Handicap-2

Auch ohne Kinderwagen erfahren die Eltern auf dem Behindertenparkplatz immer wieder dieselbe Situation – das Kind sei doch gar nicht behindert, man würde wirklich behinderten Personen den Parkplatz klauen. „Sobald die Leute dann allerdings den Rollstuhl sehen, kommt plötzlich die Mitleidsmasche und dann erst die Akzeptanz“, erzählt Sonja.

Durch die Behinderung, die spastische Cerebralparese, sind Betroffene in ihrer Feinmotorik eingeschränkt und generell in ihrer Entwicklung verzögert. In Pauls Fall entstand die Behinderung aufgrund einer Hirnblutung bei der Geburt. Vor allem Frühgeburten sind besonders anfällig für diese Störung, weil in einem bestimmten Bereich des Gehirns einige Blutgefäße noch sehr dünn sind und leicht bluten können. Durch die geschädigten Nerven kann sich Paul nicht selbst anziehen, waschen oder das Essen klein machen. Pauls Cerebralparese kann nicht geheilt werden und die Symptome bleiben sein Leben lang erhalten. Mit einigen Maßnahmen können jedoch die Beweglichkeit und damit auch seine Unabhängigkeit gefördert werden. Auf einer Familien-Reha bekam Paul zum Beispiel intensive Physiotherapie. „Man hat einfach gemerkt, dass es ihm danach viel besser ging“, erzählt Jürgen. Zusätzlich hatte Paul die Möglichkeit, an einer sogenannten Hippo-Therapie mit Pferden teilzunehmen. „Sein Rumpf war danach wesentlich stabiler“, so Jürgen weiter. Die Therapie findet in der Gangart Schritt statt, da sich dabei die Bewegungsmuster von Mensch und Pferd sehr ähneln.

Bei der hippo-therapie werden impulse auf den patienten übertragen, die ein gezieltes training ermöglichen.
             

Über den Pferderücken werden Impulse auf den Patienten übertragen, die ein gezieltes Training ermöglichen.

Die bisher schönste Zeit für Paul war die Kindergarten-Zeit. „Paul wird von jedem Kind angenommen“, erzählt der Familienvater. „Die Kinder haben einfach zusammen Spaß mit dem Rollstuhl. Jeder darf mal fahren und jeder begrüßt ihn, wenn er kommt.“ Und das Beste: Paul lernte tatsächlich das Laufen. „Ein Freund von Paul sagte einmal, wenn Paul laufen kann, macht er ein Fest“, erzählt Jürgen. So entstand das Paul-Lauf-Fest, das seitdem eine jährliche Tradition ist – sogar mit Pokal. Der Rollstuhl wird zwar trotzdem gebraucht, wenn Paul etwas länger geht. Dennoch bedeutet dieser Erfolgsmoment einen riesigen Fortschritt in Pauls kleiner Welt.
             

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Als Paul noch klein war, gab es fast keine Aussicht darauf, dass Paul einmal ohne seinen Gehwagen laufen kann.
Als Paul das Laufen lernte...: Familienleben mit Handicap-4
Als Paul das Laufen lernte...: Familienleben mit Handicap-5
„Esel“ war schon immer dabei: bei der Geburt war Paul gerade mal so groß wie sein Kuscheltier. Heute ist es immer noch sein treuer Begleiter.

Heute sieht der Alltag der Familie schon ganz anders aus: Paul geht zur Schule, er kann laufen, liebt Gummibärchen und Spaghetti, erzählt Geschichten und rennt sogar gerne. „Manchmal sogar etwas zu schnell“, wirft Sonja ein. In der Körperbehindertenschule in Kempten ist Paul von der ersten Klasse bis zur Berufsschule – wenn alles so klappt wie bisher. Die Möglichkeit, eine Ausbildung zu bekommen, hat er auf jeden Fall. Die Schule orientiert sich dabei an Pauls Entwicklung. Was die Zukunft betrifft, machen Sonja und Jürgen jedoch keinen Druck. Ihr Ziel sei natürlich der Arbeitsmarkt und Paul so selbstständig wie möglich zu erziehen. „Wenn das allerdings nicht klappt, dann ist es halt so.“ Auf die Frage, was Paul selbst mal werden will, hat er jedoch schon eine ganz klare Antwort: „BMW-Fahrer.“ Ein Mann mit klaren Zielen also. „Ein blauer“, fügt er noch hinzu.

„Wir haben nie darüber nachgedacht, was alles hätte passieren können“, sagt Sonja. „Denn es ist und bleibt ja trotzdem unser Paul.“ Paul, der bei der Geburt hätte sterben, der nie hätte laufen und der vielleicht sogar hätte erblinden können. Ein Junge, der Gummibärchen liebt, BMW-Fahrer werden will, aber vor allem: der seine Lebensfreude an sein ganzes Umfeld weitergibt.

Text von Sandra Heitmann