Leben

Dialyse statt Betthupferl

Der Schreck kam in der 30. Schwangerschaftswoche: „Ihr Baby hat eine Nierendysplasie.“ Nierendysplasie – eine Diagnose, die das Leben von Familie Reich aus Leutkirch auf den Kopf stellen wird, lebenslang.

Der Katheter in Merle Reichs Bauch hindert sie nicht daran, auf dem Bauch robbend die Welt zu erkunden. Foto: Familie Reich

Der Katheter in Merle Reichs Bauch hindert sie nicht daran, auf dem Bauch robbend die Welt zu erkunden. Foto: Familie Reich

Der Schreck kam in der 30. Schwangerschaftswoche: „Ihr Baby hat eine Nierendysplasie.“ Nierendysplasie – eine Diagnose, die das Leben von Familie Reich aus Leutkirch auf den Kopf stellen wird, lebenslang.Bei einer Routineuntersuchung im letzten Drittel der Schwangerschaft stellten die Ärzte bei Yvonne Reich fest, dass kaum noch Fruchtwasser vorhanden ist. Es folgten weitere Untersuchungen, die ergaben, dass die Nieren ihrer ungeborenen Tochter Merle nicht richtig arbeiten.Von da an musste Yvonne Reich regelmäßig Termine wahrnehmen, um sicherzugehen, dass die Niereninsuffizienz keine weitreichenden Schäden an ihrer Tochter hinterlässt. Glücklicherweise blieben die Werte stabil, sodass kein frühzeitiger Kaiserschnitt notwendig war und sich andere Organe vollständig entwickelten.    

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Behandlung im Kinderzimmer: Die Dialysemaschine steht bei Merle im Kinderzimmer. Besonders wichtig ist der sterile Umgang. Bis zu zwölf Stunden dauert es, bis Merles Blut „gewaschen“ ist.

Hochleistungsorgan

Die Niere übernimmt lebenswichtige Aufgaben; sie filtert unter anderem das Blut, reguliert den Salz- und Wasserhaushalt oder sorgt dafür, dass der Körper Giftstoffe ausscheidet. Darüber hinaus produzieren die Nieren Hormone, etwa Erythropoetin. Ein Hormon, das für die Blutbildung wichtig ist. Doch die Hauptfunktion der Nieren ist die Ausscheidung harnpflichtiger Substanzen. Arbeiten die Nieren nicht richtig, sammeln sich Giftstoffe im Körper an. Bei Merle passiert die Entgiftung nachts, über einen Katheter – drei Tage nach ihrer Geburt erstmals.

Die ersten sieben Wochen ihres Lebens verbringt Merle im Memminger Krankenhaus, eines von drei Kinderdialysezentren in Bayern. Diese Zeit war nicht nur aufgrund von Merles Gesundheitszustand nervenaufreibend. Ihre Geschwister durften sie wegen der Coronaregeln nicht im Krankenhaus besuchen. So lernten sie ihre kleine Schwester erst nach acht Wochen kennen. „Ich möchte keine einzige dieser Wochen nochmals erleben“, sagt die Vierfachmama erschöpft. Die erste gemeinsame Zeit zu Hause war voller Berührungsängste, denn aus Merles kleinem Bauch ragt ein Plastikschlauch, der Katheter für die Bauchfelldialyse.

Die einen lesen abends eine Gutenachtgeschichte vor, bei Reichs ist das Abendritual das Einschalten der Dialysemaschine. Zwölf Stunden läuft diese im Kinderzimmer. „Gegen 19 Uhr schalten wir sie ein und bereiten alles für die Nacht vor“, erzählt Yvonne. Über sechs Monate nach Merles holprigen Lebensstart hat sich Routine eingespielt.

„Ich möchte keine einzige Woche zurück“

– Yvonne Reich über Merles erste Wochen im Krankenhaus

Mehr als nur ein Schlauch

Doch bevor man mit der Bauchfelldialyse (Peritonealdialyse genannt) beginnen kann, muss bei einer Operation ein Katheter in den Bauchraum eingepflanzt werden. Von dort aus verläuft der Schlauch innerhalb der Bauchdecke und endet in der Bauchhöhle. Nach wenigen Wochen ist der Katheter fest in die Bauchhaut eingewachsen, etwa 15 Zentimeter bleiben außerhalb des Körpers.

Im Krankenhaus und mit Hilfe der Ärzte, besonders Dr. Fehrenbach, dem Leiter des Nierenzentrums, lernte Familie Reich schnell den Ablauf der allnächtlichen Dialyse. Sobald Merle angeschlossen ist, wird – über zwölf Stunden verteilt – eine spezielle Flüssigkeit, das Dialysat, in ihren Bauch gepumpt. Bei der Bauchfelldialyse wird das Bauchfell (Peritoneum) als eine Art biologischer Filter eingesetzt. „Das Peritoneum wird quasi als Ersatzniere missbraucht“, erklärt Dr. Fehrenbach.

Nach einer Stunde ist die Flüssigkeit mit Giftstoffen aus Merles Körper angereichert. Über den Katheter lässt man das Dialysat aus dem Bauchraum ab und ersetzt es durch eine frische Lösung. Da Entgiftung langsam und stetig erfolgt, ist sie ein schonendes Verfahren - nachts, während Merle schläft.

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Neben regelmäßigen Arztbesuchen ist trotzdem noch viel Raum und Platz für Freude und Lachen.
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Links stapeln sich die Kartons mit der speziellen Dialyseflüssigkeit. Rechts ein Einblick in den Medikamenten- und Verbandsschrank. Foto: Familie Reich
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Der Katheter ist fest in die Bauchhaut eingewachsen. Die anfänglichen Berührungsängste sind schnell verschwunden. Foto: Maricci King

Medizinerin wider Willen

Zwischen 8 und 9 Uhr ist der Vorgang fertig. Yvonne steckt das Gerät ab, misst den Blutdruck, wiegt Merle und ölt die trockene Haut ihres Kindes ein. Zwangsläufig wurde sie zur Expertin, was medizinische Abläufe betrifft.

Das Geschick und Können mit der Dialysemaschine muss man erstmal lernen. Auch Schulungen mit den Themen keimarme Bedienungen und Verbandswechsel besuchte sie. „Anfangs war die große Verantwortung und alles so beängstigend“, erinnert sich Yvonne. Was, wenn nachts der Strom und somit die Dialysemaschine ausfällt?

Eine Zwischenlösung

Doch schnell lernt Familie Reich, mit der Maschine umzugehen. Die wird ihnen noch eine Zeit erhalten bleiben. Die Dialyse ist nur eine Zwischenlösung, bis Merle schwer genug für eine Transplantation ist. Für die Operation sollte sie laut Dr. Fehrenbach circa acht Kilo wiegen, damit die eingesetzte Niere auch ausreichend durchblutet werde.

Bis zur Transplantation können noch ein bis zwei Jahre vergehen. So lange machen sich Merle und Yvonne alle zwei bis vier Wochen zu Kontrolluntersuchungen auf den Weg nach Memmingen. So lange bleibt das Kinderzimmer steril und der gesamte Alltag der Familie richtet sich nach der Dialyse. So lange wird Merle auch mit einem aus dem Bauch ragenden Katheter aufwachsen. Yvonne nimmt es mit Galgenhumor: „Ach, der Schlauch, der gehört halt zu Merle dazu.“ Maricci King