Mut, sich zu lösen
Der Schritt ins zweite Leben
„Wenn ich heute nach Hause komme, bist du tot.“ Das waren die letzten Worte bevor Alexandra H. (Name von der Redaktion geändert) vor ihrem damaligen Ehemann geflüchtet ist. Dem Mann, dessen Namen sie nicht ausspricht, kein einziges Mal. Kurz darauf stand sie mit leeren Händen in Frankfurt auf der Straße. Mit nichts als ihrem Sohn und Panik – der Zeitpunkt, an dem sie entschied ihren Noch-Ehemann nie wieder zu sehen. Zuflucht und Schutz fand die heute 37-jährige in einem Frauenhaus nahe Memmingen. Mit ihr sind das bundesweit etwa 15 000 andere Frauen und 17 000 Kinder pro Jahr, die in die Einrichtungen kommen.„Das war viel Glück“, erzählt Alexandra H. „Mein Sohn und ich, wir hatten niemanden. Nur eine flüchtige Bekannte, die meine Geschichte kannte.“ Wie vom Schicksal bestimmt, kam ein Anruf von ihr mitten in der Nacht, Alexandra solle sofort zu ihr nach Bayern kommen.
„Sie ging mit mir zur Polizei und kontaktierte sogar das Frauenhaus für mich“, so Alexandra weiter. Sie selbst fühlte sich dazu nicht in der Lage. Zu groß war die Angst und außer „Hallo“, „Tschüss“ und „Danke“ konnte sie kein Wort Deutsch.
Jede "4" Frau erlebt mindestens einmal körperliche oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft.
Für die Betreuerinnen im Frauenhaus war es nicht nur eine Selbstverständlichkeit sie sofort abzuholen, ihr ein Dach über dem Kopf zu gewähren. Sie boten ihr außerdem eine Sprachschule, einen Kindergartenplatz, einen Rechtsanwalt für ihre Scheidung und seelische Unterstützung. „Das einzige, was eine Frau mitbringen muss ist Mut.“ Mut, sich von ihrem Mann loszulösen und zu gehen.
Silvia Nuber arbeitet seit 18 Jahren im Frauenhaus in Memmingen. Sie kennt die Geschichten von betroffenen Frauen wie Alexandra. Als Sozialarbeiterin unterstützt sie den Weg der Frauen und Kinder in ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben. „Wir nennen das ‚Hilfe zu Selbsthilfe‘“, erklärt Silvia. „Viele wollen sich von ihren Ehemännern wirklich trennen. Doch etliche Frauen kehren auch wieder zurück. Auch dann lassen wir sie selbstverständlich ihre Entscheidung treffen.“ In einem ersten Beratungsgespräch – sofern es möglich ist – werden Frauen über das Leben im Frauenhaus aufgeklärt. Ihnen werden dabei die Haus- und Verhaltensregeln nahegebracht. Diese beinhalten, dass die Frauen ihre SIM-Karte abgeben, ihre Nummer wechseln und unter keinen Umständen die Adresse des Frauenhauses weitergeben – an niemanden. Eine strenge Regel, um den Schutz aller Frauen und Kinder zu bewahren.
Jährlich werden hunderttausende Frauen Opfer der Gewalt ihrer Ehemänner, Partner oder Ex-Partner. Statistisch gesehen heißt das, dass jede Stunde eine Frau von ihrem Partner verletzt wird oder dass jede vierte Frau mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt. Wenn Gewalt im Familien- oder Freundeskreis bekannt ist (oder vermutet wird), kann man sich telefonisch von den erfahrenen Mitarbeiterinnen vertraulich beraten lassen.
Letztendlich muss der Schritt für eine Aufnahme ins Frauenhaus aber immer von den betroffenen Frauen selbst ausgehen, und sie müssen sich persönlich melden. Sind die Frauen bereit, sich eine neue Existenz aufzubauen, ist das Frauenhaus immer an ihrer Seite. Sie bieten ihnen, wie Alexandra, Hilfe für jede Angelegenheit. Neben Rechtsanwälten und Kindergartenplätzen, gehen die Betreuerinnen mit den Frauen zum Jobcenter, zur Polizei, beantragen Hartz IV, gehen auf Wohnungs- und Arbeitssuche, eröffnen ihr ein eigenes Konto und vermittelt zu Therapeuten. Haben sich alle Angelegenheiten geklärt, können die Frauen ihr neues Leben beginnen. Wie lange sie in Obhut des Frauenhauses bleiben können, hängt von dem jeweiligen Fall ab. „Die Verweildauer geht von einer Nacht bis zu über einem Jahr“, erzählt Silvia. „Manche werden durch ihren kompletten Scheidungsprozess begleitet. Das nimmt viel Zeit in Anspruch.“
Werden aber die Regeln gebrochen, das Handy benutzt oder das Zusammenleben gefährdet, gibt es klare Grenzen: Wenn andere Frauen und die Anonymität des Frauenhauses in Gefahr gebracht werden, muss die Frau das Haus verlassen. „Die Forderung, ihre Handys auszuschalten, war für viele Frauen sehr schwer“, erinnert sich Alexandra. „Ich rate es aber jeder, um nicht nachzugeben, sondern loszulassen.“ Denn auch nach der Flucht hörten die Drohungen bei Alexandra nicht auf. Ihr Exmann schickte ihr schreckliche Bilder aus dem Internet von Frauen, die in einem Graben liegen. „Du bist die Nächste“, stand darunter. Er begann, sich mit seinen Freunden auf die Suche nach ihr zu machen und forderte sie ständig dazu auf, ihm seinen Sohn zurückzugeben: „Du weißt, was sonst passiert.“ Kein Mittel war ihm zu schade, um sie zu erniedrigen. „Er hat damals meinen Computer gehackt und sich in meine sozialen Medien eingeloggt“, erzählt Alexandra. Es wurden über ihr Profil Beiträge gepostet, die sie als Prostituierte dastehen ließen.
„Das war so demütigend. Meine Eltern, Verwandten – alle haben es gesehen.“ Die Polizei konnte dagegen nichts unternehmen. Bis heute gibt es das gefälschte Profil von ihr. „Nur im Frauenhaus habe ich mich sicher gefühlt. Sie stehen einfach hinter dir, neben dir, überall. Sie unterstützen dich, wo sie nur können, machen mit uns Frauen Ausflüge und auch mit den Kindern“, beginnt Alexandra intuitiv zu lächeln. „Das war das beste Jahr meines Lebens.“
Nachdem sie das Frauenhaus verlassen hat, beginnt ihr Schritt in ein zweites Leben. Alexandra findet eine Wohnung, hat einen Job, lernt ihre große Liebe kennen. Heute leben sie glücklich verheiratet in einem wunderschönen Haus mit Garten, Hund und ihrem elfjährigen Sohn. Vom alten Leben keine Spur. Es bleiben nur Erinnerungen an den Vater ihres Sohnes, die sie zu einer unabhängigen Frau machen, wie sie es heute ist – der Beweis, dass sie den Sprung geschafft und sich ihr Mut gelohnt hat. Beide Frauen – Alexandra H. und Silvia Nuber – sind sich einig, dass das Thema „Häusliche Gewalt“ und „Frauenhäuser“ offener kommuniziert werden muss. So wissen betroffene Frauen, dass sie nicht allein sind und eine Möglichkeit haben, sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Sie sollen wissen, dass ihnen jemand helfen kann, sobald sie es nur wollen und zum Telefon greifen. Text von Sandra Heitmann